Die Schüler*innen der Klassenstufe 10 erwarteten am Montag, dem 20.03., zwei interessante Geschichtsstunden mit dem Zeitzeugen Günther Wetzel, der 1979 einen spektakulären Fluchtversuch mit einem Heißluftballon unternahm. Begleitet wurde er von Herrn Dr. Alexander O. Müller, dem Verantwortlichen für politische Bildung und Öffentlichkeitsarbeit bei der Sächsischen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, der zunächst einen kurzen Überblick zu dem Aufgabenbereich dieser Behörde gab.
Im lockeren Gespräch wurden gemeinsam mit den Mädchen und Jungen zunächst Gründe und Möglichkeiten einer Flucht aus der DDR besprochen. Herr Wetzel ergänzte seine persönlichen Gründe für seinen Fluchtversuch. Der Wunsch, die DDR zu verlassen, sei in vielen Jahren gereift. Bereits in seiner Kindheit, die er in einem kleinen Dorf verbrachte und die er als glücklich bezeichnete, erlebte er durch das Umfeld die Ungerechtigkeiten des Systems, wie z.B. die Enteignungen der Privatbauern und deren Zwangseintritt in die LPG. Die eigentliche Fluchtidee sei eher ein Zufall gewesen. Er hätte in einer Westzeitung von einem großen Ballonfahrertreffen gelesen und dabei sei der Fluchtgedanke realistischer geworden. Als ihm dann in der DDR ein Studium verwehrt wurde, folgten konkretere Überlegungen, ohne dass Fachwissen vorhanden war.
Den ersten Stoff für einen Ballon erwarb er für einen Kasten Bier aus der volkseigenen Lederfabrik in Pösneck. Immer wieder wurden die Zehntklässler mit einbezogen, z.B. bei der Frage, was man bei der Stoffbeschaffung und einer Fahrt alles beachten müsste. So stellte sich auch heraus, dass der ursprüngliche Futterstoff nicht geeignet war, sodass der Ballon vernichtet werden musste. Nach dem ersten Misserfolg begann Herr Wetzel mit Berechnungen und dem Studium von Fachliteratur. Stofftests mit einem selbst gebauten Gerät und einem Staubsauger führten zum nutzbaren Stoff, der dicht und fest sein musste, dem Taft, der in der Leipziger „Blechbüchse“ gekauft wurde. Der erste größere Ballon dauerte 6 Wochen, genäht im Schlafzimmer auf einer gusseisernen Nähmaschine aus den Dreißigern.
Für den Fall, dass der Fluchtversuch von der Staatssicherheit enttarnt wurde und die Familie im Gefängnis landete, weihte Herr Wetzel einen Westverwandten ein, der dann die westlichen Medien informieren sollte, in der Hoffnung, dass man von der Bundesregierung freigekauft werden würde.
Beim Fluchtprojekt arbeitete Herr Wetzel mit seinem damaligen Freund Peter Strelzyk zusammen. Allerdings trennten sich 1978 nach Differenzen vorübergehend die Wege und Herr Wetzel wollte ein eigenes Leichtmetallflugzeug konstruieren, was misslang. Nach einem gescheiterten Versuch, den Herr Strelzyk mit seiner Familie allein unternahm, arbeiteten beide wieder zusammen, berechneten alles neu, kauften in kleinen Mengen in der ganzen DDR ein und bauten den Fluchtballon. Laut Wetzel beliefen sich die Kosten auf ca. 40-50.000 DDR-Mark. In der Endphase der Vorbereitungen nahm er seinen Resturlaub von 3 Wochen und ließ sich 2 Wochen krankschreiben. Bis abends 22 Uhr habe Herr Wetzel am Abfahrtstag am Ballon genäht, bevor die Familien in einem Wartburg aufs Feld fuhren und gegen 1.20 Uhr starteten. Er berichtete über die Missgeschicke und Ungewissheiten, die während der Fahrt auftauchten. Bei der Landung sei völlig unklar gewesen, ob man tatsächlich im Westen sei. Erst als man in einer Scheune ein Westfahrzeug entdeckte und auf der Straße einen Audi der Polizei sah, war klar, man hatte es geschafft.
Auf die Frage eines Schülers, ob er das wieder machen würde, sagte Herr Wetzel, dass das nicht zu beantworten sei, aber eins sei klar, in diesen Ballon wäre er mit seinem heutigen Wissen nicht eingestiegen.
28 Minuten schwebten 8 Personen (darunter ein zwei- und ein fünfjähriges Kind) über die deutsch-deutsche Grenze und gingen damit in die Geschichte ein. Der Film „Ballon“ und zahlreiche Publikationen widmeten sich diesem Thema.
90 Minuten Geschichte pur mit spannenden Erlebnissen und Hintergrundinformationen vermittelten den Schüler*innen ein eindrucksvolles Bild dieser spektakulären Flucht.
Text und Bild: AG Öffentlichkeitsarbeit (A. Rögner)